– Steigende Energiepreise, Konsumzurückhaltung durch die Inflation, höhere Zinsen für Kredite sowie weiterhin Lieferkettenprobleme lassen erahnen, dass die Zahl der Insolvenzen steigen wird. Das zeigt sich bereits bei Großinsolvenzen ab 50 Millionen Euro Umsatz, deren Anzahl sich branchenübergreifend im dritten Quartal 2022 im Vergleich zum Vorjahresquartal verdoppelt hat. „Nur eine differenzierte Betrachtung der Insolvenzentwicklung zum Beispiel nach Unternehmensgröße liefert eine ganzheitliche Sicht“, sagt Ralph Roßmanith, Geschäftsführer der STP Business Information GmbH, eines führenden Anbieters für tiefenstrukturierte Insolvenzinformationen.
Insolvenzen großer Unternehmen, darunter in diesem Jahr bereits so bekannte Handelsmarken wie der Schuhhändler Görtz oder der Toilettenpapier-Hersteller Hakle, bergen erfahrungsgemäß höhere Risiken für Arbeitnehmer, Lieferanten und Kunden. „Daher ist für Unternehmen und Banken etwa ein tiefenstrukturiertes Insolvenz-Monitoring zur Früherkennung wichtig“, so Roßmanith. STP Business Information stellt in seiner Analyse fest, in welchen Branchen es besonders viele Insolvenzen gibt.
- Maschinenbau: Eine der Vorzeigebranchen der deutschen Wirtschaft verbucht im dritten Quartal 2022 bei der Zahl der Insolvenzen im Vergleich zum Vorjahr eine Zunahme von 23 Prozent.
- Automobilindustrie: Im Automotive-Bereich gab es im Vergleich zum dritten Quartal 2021 33 Prozent mehr Insolvenzen.
- Gastgewerbe: Bei Restaurants und Hotels ist die Anzahl der Insolvenzverfahren im dritten Quartal mit 22 Prozent ebenfalls gestiegen.
„Die Krise ist zum Normalzustand geworden und die derzeitige wirtschaftliche Unsicherheit betrifft praktisch alle Branchen“, sagt Dr. Ludwig J. Weber, Experte für Unternehmensfinanzierung und -sanierungen bei der Kanzlei Schultze & Braun. „Zudem lässt sich kaum abschätzen, bis wann der Krisenmodus andauern wird, und auch ein ‚Nachholeffekt‘ wie nach der Corona-Pandemie scheint derzeit ausgeschlossen, da die Preise in den meisten Branchen aller Voraussicht nach weiter steigen oder auf einem hohen Niveau verbleiben werden. Ich rechne daher damit, dass in den kommenden Wochen und Monaten die Zahl der Insolvenzen weiter zunehmen wird.“
Einen Einfluss auf die bisher noch rückläufigen Verbraucherinsolvenzen und damit auf die Bankbilanzen sieht Jürgen Sonder, Präsident der Bundesvereinigung Kreditankauf und Servicing (BKS), die gemeinsam mit der Frankfurt School of Finance & Management im NPL-Barometer die Entwicklung von Kreditausfällen beobachtet: „Ich sehe ein großes Risiko für weitere Insolvenzen durch sogenannte Zombieunternehmen. Schon zu Zeiten üppiger Liquidität waren diese nicht in der Lage, Schulden zu tilgen. Neben den hohen Kosten für Materialbeschaffungen und Energie müssen diese Unternehmen nun auch noch höhere Zinskosten stemmen. Die Kapitaldienstfähigkeit wird dadurch mehr als fraglich.“
Auch im Bereich der Immobilienbranche dürfte in absehbarer Zeit die Zahl der Insolvenzen zunehmen. Zwar ist im Baugewerbe trotz der Turbulenzen auf dem Immobilienmarkt im Oktober 2022 verglichen zum Vorjahresmonat noch kein Anstieg, sondern nach Analyse von STP Business Information ein Rückgang der Insolvenzen um fast 30 Prozent zu verzeichnen. Und im aktuellen NPL-Barometer (Ausgabe Sommer 2022) der BKS gaben die Risikomanager in den Banken an, dass die Bestände notleidender Immobilienkredite innerhalb eines 12-Monats-Zeitraums überwiegend gleichgeblieben oder zurückgegangen seien. Doch befürchteten im Bereich der Wohnimmobilienkredite 36 Prozent und im Bereich der gewerblichen Immobilienkredite sogar 47 Prozent der befragten Risikomanager, dass die NPL-Bestände ansteigen werden.
Ein weiterer Frühindikator für Kreditausfälle sind Stage-2-Kredite, die nach IFRS 9 ein signifikant erhöhtes Kreditrisiko aufweisen. Ihr Anteil wuchs deutschlandweit im Vergleich zum Vorjahr laut Zahlen der European Banking Authority von 8,4 auf 10,8 Prozent. Prof. Dr. Christoph Schalast, BKS-Beiratsvorsitzender und Professor an der Frankfurt School of Finance & Management: „Schon im Frühjahr 2020 rechneten viele mit einem signifikanten Anstieg der Insolvenzen, doch die staatlichen Milliardenhilfen und nicht zuletzt das Nullzinsumfeld haben das verhindert. In den letzten Monaten haben sich diese Rahmenbedingungen vollständig geändert und es ist zu befürchten, dass viele verschleppte Insolvenzen jetzt nachgeholt werden. Insoweit wird Früherkennung von Risiken immer wichtiger.“