Zu Jahresbeginn gingen die Markterwartungen von einer globalen Wachstumsbeschleunigung und steigenden Unternehmensgewinnen, verbunden mit einem Inflationsrückgang sowie massiven Zinssenkungen der Notenbanken aus. Wo steht die Konjunktur nun nach dem ersten Halbjahr, und wie geht es weiter? „Dass sich alle Erwartungen gleichermaßen erfüllen würden, schien zu schön, um wahr zu sein – und das bewahrheitete sich schließlich auch“, sagt Tilmann Galler, Kapitalmarktstratege bei J.P. Morgan Asset Management anlässlich einer Halbjahresbilanz. „Der Zuckerrausch der US-Konsumenten flaut ab, weil die direkten Finanzspritzen für Privathaushalte und Sparguthaben aus der Pandemie kleiner werden. Volkswirtschaften haben allerdings die unangenehme Neigung, von ‚zu heiß‘ direkt in ‚zu kalt‘ überzugehen. Weiche Landungen gibt es selten“, führt Ökonom Galler aus. Das globale Wachstum sollte seiner Einschätzung nach in den bevorstehenden 12 Monaten gleichwohl stabil sein, wenngleich sich seine geografische Zusammensetzung ändern dürfte – vor allem in Europa zieht das Wachstum an. Eine gewisse Abkühlung des Wachstums wäre in den USA wiederum durchaus zu begrüßen, da die US-Konjunktur im letzten Jahr definitiv überhitzt gewesen sei.
Wachstum zieht in Europa an, in den USA lässt die Dynamik nach
Während die Wachstumsdynamik in den USA abnimmt, ist in Europa das Gegenteil zu beobachten. Der Schock der gestiegenen Lebenshaltungskosten lässt nach, und das Umfeld wird für die europäische Wirtschaft günstiger. So zieht das Wachstum an – wenn auch von einem sehr niedrigen Niveau aus. Angesichts steigender Reallöhne und eines sich verbessernden Verbrauchervertrauens erholt sich auch die Nachfrage im Einzelhandel und im Dienstleistungssektor. „Solide Arbeitsmärkte, ein weiterer Anstieg der Reallöhne sowie weiterhin verfügbare Ersparnisse aus der Pandemiezeit, die noch zum Ausgeben verfügbar sind, können den Konsum weiter stützen“, erklärt Galler.
Die makroökonomischen Aussichten für stärker industrialisierte Länder wie Deutschland dürften auch durch eine Erholung der Nachfrage nach Industriegütern gestärkt werden. Die Schwäche im verarbeitenden Gewerbe der letzten beiden Jahre ist aus Sicht von Tilmann Galler wahrscheinlich darauf zurückzuführen, dass sich der Kostenschock auf diesen Wirtschaftssektor intensiver ausgewirkt hat und dass während der Pandemie ein Überbestand an Gütern akkumuliert wurde. Dieser Überhang scheine sich jedoch normalisiert zu haben und die Nachfrage nach Fertigerzeugnissen dürfte sich weltweit verbessern. „Zwar erwarten wir nicht, dass Europa die USA überholt – wahrscheinlich werden sich die Wirtschaftsaktivitäten aber aneinander annähern“, führt der Ökonom aus.
Ist das aktuelle Wachstum mit den Inflationszielen vereinbar?
Als zentrale Frage sieht Galler aktuell, ob das in den USA stabile und in Europa aufwärts tendierende Wachstum mit einer raschen und nachhaltigen Rückkehr der Inflation auf das Zwei-Prozent-Ziel der Zentralbanken vereinbar ist. „Ein großer Teil des Rückgangs der US-Inflation war der Stabilisierung der Lebensmittel- und Energiepreise zu verdanken. Diese günstigen ‚Basiseffekte‘ haben in Europa länger auf sich warten lassen. Sie tragen nun zum Sinken der Gesamtinflation bei“, erklärt Galler. Allerdings hält sich die zugrunde liegende Inflation in den USA hartnäckig bei rund 3,5 Prozent. Auch in der Eurozone und im Vereinigten Königreich scheinen die zugrunde liegenden Komponenten wie Dienstleistungen bei etwa 4 Prozent sowie 6 Prozent im Vorjahresvergleich zu verharren. „Unserer Ansicht nach dürfte diese Hartnäckigkeit der Kerninflation noch länger anhalten. Solange sich das Wachstum in den USA abkühlt und der Aufschwung in Europa moderat bleibt, herrscht aber keine Gefahr einer wesentlichen Beschleunigung der Inflation“, sagt Galler. Der Arbeitsmarkt sei stabil, überhitze aber nicht mehr. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden nicht mehr mit dem Versprechen höherer Löhne zu Stellenwechseln verlockt wie vor einem Jahr.
Zinswende: Normalisierung statt Lockerung
Die Zentralbanken scheinen aus Sicht des Kapitalmarktstrategen im verschärften politischen Umfeld ein Überschreiten der Inflation als Preis dafür hinzunehmen, dass die Arbeitslosigkeit niedrig bleibt. „Wir erwarten daher, dass alle großen westlichen Zentralbanken noch vor Jahresende mit der Senkung der Zinssätze begonnen haben werden, was sie als Normalisierung der Politik von restriktiven Niveaus und nicht als Lockerung bezeichnen werden“, sagt Galler. „Wenn es zu keinem Schock kommt, der das Wachstum stört, dürften die Kürzungen in den nächsten 12 Monaten nicht viel mehr als ein Prozentpunkt umfassen. Die Zinsen werden also viel höher bleiben als in der Zeit vor der Pandemie“, führt der Ökonom aus.
Anleihen leisten wieder, was sie sollen – Aktiengewinne dürften sich gleichmäßiger auf Sektoren und Regionen verteilen
Der jüngste Wechsel von niedrigen zu „normalen“ Zinssätzen sei zwar für Investoren in Anleihen schmerzhaft gewesen, man sollte nach Einschätzung von Tilmann Galler aber im Blick behalten, dass der Ausblick jetzt für festverzinsliche Wertpapiere positiv ist. „Anleihen leisten wieder, was sie sollten: angemessene regelmäßige Erträge liefern und mit Diversifizierung vor Wachstumsschocks schützen. Obwohl die Zinssätze relativ hoch bleiben, sind wir der Meinung, dass es für Anlegerinnen und Anleger bessere Möglichkeiten als Cash-Anlagen gibt, um dauerhafte regelmäßige Erträge zu sichern“, erklärt Galler.
Robustes Wachstum und hartnäckige Inflation sind, wenn alle anderen Faktoren gleich bleiben, positiv für die Gewinne von Unternehmen. „Dieser Hintergrund dürfte im Allgemeinen die Bewertung von Risikoanlagen stützen, wir gehen aber davon aus, dass sich die Erholung der Gewinne in den kommenden Quartalen gleichmäßiger auf Sektoren und Regionen verteilen wird“, so das Fazit von Tilmann Galler mit Blick auf die Lage am Aktienmarkt.
Den vollständigen Halbjahresausblick des Market Insights Teams von J.P. Morgan Asset Management finden Sie hier