Vates Invest: Die große Illusion des „Dieses Mal ist alles anders“

Die Aktienmärkte feiern Rekordhochs im Angesicht einer drohenden Rezession. Der Widerspruch wird von den Märkten mit der einfachen Begründung aufgelöst, dass dieses Mal alles anders sei. „Dass also grundlegende Wirkmechanismen der Marktwirtschaft außer Kraft gesetzt sind“, sagt Benjamin Bente, Geschäftsführer der Vates Invest GmbH. „Doch das hat noch nie lange getragen.“

Der Blick auf Leading Indicators wie zum Beispiel die Kreditvergabestandards zeigt die Widersprüchlichkeit der Situation: „Während der Aktienmarkt geradezu ein Goldilocks-Szenario preist, zeigen insbesondere Indikatoren wie die US-Kreditvergabestandards akute Rezessionsrisiken und mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Rezession an“, sagt Bente. Immerhin hatten die Kreditvergabestandards in der Vergangenheit, seit sie in den 1960er-Jahren aufgezeichnet wurden, eine hundertprozentige Trefferquote: Immer, wenn Banken sehr restriktiv in ihrer Kreditvergabe wurden, folgte auch eine Rezession. „Unser Geldsystem setzt nämlich für das Wachsen der Wirtschaft einen Anstieg der Kreditvergabe voraus“, so Bente. Insofern ist es schwer nachvollziehbar, wieso der Aktienmarkt sich dieses Mal in einer Phase restriktiver werdender Kreditvergabe ganz anders zeigt, sich nicht im Bärenmarkt befindet und im Gegenteil immer neue Allzeithochs markiert.

Die Argumentation ist dann: Dieses Mal ist eben alles anders. „Banken seien nicht mehr so wichtig für die Kreditvergabe, es gebe jetzt viel private Kreditvergabe, Private-Lending-Fonds und so weiter, die in die Bresche springen“, so Bente. Deswegen sei eben dieses Mal alles anders als in den vielen Jahrzehnten zuvor, die restriktive Kreditvergabe und damit die Politik der Banken kein Problem. Darüber ist es müßig zu diskutieren, denn in den vergangenen Jahrzehnten hat sich an den unterschiedlichsten Beispielen immer wieder gezeigt, dass die „Dieses-Mal-ist alles-anders-Argumentation“ fundamentale Wirkprinzipien infrage stellt und dafür jedes Mal gut und logisch klingende Argumente findet. „Und immer haben sie sich als falsch erwiesen“, sagt Bente.

Dazu zwei Beispiele: In den späten 1990er-Jahren wurden die damaligen Internetunternehmen völlig jenseits jeder fundamentalen Realität gepreist. KGVs spielten überhaupt keine Rolle mehr, selbst Kurs-Umsatz-Verhältnisse konnten am Ende nicht mehr auch nur annähernd die Bewertung rechtfertigen. Dann wurde argumentiert, dass es dieses Mal nicht auf Unternehmensgewinne für einen Unternehmenswert ankommt, sondern dass das Internet so etwas Anderes und Revolutionäres sei, da spielten Unternehmensgewinne keine Rolle mehr. „Was grotesk ist, weil ein Unternehmen langfristig eben nur so viel Wert ist, wie seine Gewinne plus Eigenkapital“, sagt Bente. „Nichtsdestotrotz haben das sehr viele geglaubt und mit dieser Argumentation gearbeitet.“ Sie erwies sich im Nachhinein als falsch.

Auch in der jüngeren Vergangenheit gibt es ein gutes Beispiel: Noch bis vor eineinhalb Jahren wurde argumentiert, dass die Zinsen nie wieder deutlich steigen könnten, weil dann die überschuldeten Staaten pleitegehen würden. Also selbst wenn die Inflation signifikant ansteigen sollte, was ja normalerweise stark steigende Zinsen auslösen würde, selbst dann könnten die Zinsen nicht stark steigen, weil dies Staaten wie Italien und Co. in den Abgrund reißen würde. „Da wurde wieder landauf, landab gepredigt: Dieses Mal ist alles anders“, sagt Bente. „Und das, obwohl es seit Jahrhunderten einen Zinszyklus gibt.“ Zinsen fallen, steigen aber auch wieder und besonders deutlich immer dann, wenn die Inflation deutlich steigt. Aber das sei diesmal alles anders, weil diese steigenden Zinsen ja gar nicht durchsetzbar seien für die Notenbanken.

Nun haben wir in den vergangenen anderthalb Jahren den größten Inflationsschock und den steilsten Zinsanstieg seit den 1970ern gesehen. Insofern war eben nicht alles anders. Das alte Grundprinzip gilt unverändert, dass Zinsen deutlich angehoben werden durch die Notenbanken, wenn die Inflation deutlich steigt. „Alle Argumente, dass das diesmal nicht sein könne, weil Staaten überschuldet seien, erwiesen sich als falsch, obwohl sie logisch klangen“, sagt Bente. „By the way: Bisher ist noch kein Staat pleitegegangen. Also auch die Einschätzung, dass die Staaten diesen Zinsanstieg gar nicht aushalten, hat sich ja offensichtlich auch als falsch erwiesen.“

Insofern ist die Vergangenheit ein Mahner, nicht der „Dieses-Mal-ist-alles-anders-Argumentation“ zu verfallen, weil sie regelmäßig falsch liegt. „Deswegen gilt es auch aktuell, die immer restriktiver werdende Kreditvergabe der US-Banken als ein Indiz zu sehen, dass eine Rezession trotz dieses Aktienmarktanstiegs weiterhin wahrscheinlich ist“, sagt Bente. „In der Vergangenheit war es immer so, dass eine ‚Dieses-Mal ist-alles-anders-Argumentation‘ irgendwann immer wieder zurückgehandelt wurde und auf der fundamentalen Realität gelandet ist.“ Je stärker der Markt sich vorher von der Realität entfernt hatte, desto schmerzhafter war der Fall. Auch hier das besondere historische Extrembeispiel: Die späten 1990er, als sich der Aktienmarkt über mehrere Jahre von der Realität entfernt hatte, dann aber auch einen der stärksten Bärenmärkte der gesamten Geschichte Anfang der 2000er-Jahre hingelegt hat.