Seit Ende letzten Jahres sind Reflation, reflationäre Maßnahmen und reflationäre Geschäfte beliebte Diskussionsthemen unter Ökonomen und in Finanzkreisen. Das schreibt Ethenea in einem Marktkommentar: Die Märkte beobachten aufmerksam den Anstieg der Inflationserwartungen und bewerten die Auswirkungen der zyklischen Erholung auf die Renditen von Staatsanleihen und die Maßnahmen der Zentralbanken. Aber warum ist das so wichtig und welche Auswirkungen könnten die aktuellen makroökonomischen Entwicklungen für die Märkte in den kommenden Quartalen haben?
Reflation und Inflation sollten nicht verwechselt werden
Um nachzuvollziehen, warum das Thema Reflation derzeit so stark im Fokus steht, müssen wir zunächst einmal verstehen, was Reflation bedeutet, was ein reflationäres Umfeld ausmacht und wie es sich von einem inflationären Umfeld unterscheidet.
Wir können Reflation allgemein als die Anfangsphase einer wirtschaftlichen Erholung nach einer kontraktiven oder deflationären Phase definieren. Zudem umfasst sie auch die Aussicht auf eine schrittweise Rückkehr von Produktion und Inflation zu ihren langfristigen Trends nach einer Rezession oder einem deflationären Schock (wie zum Beispiel dem, den wir durch die Pandemie erlebt haben).
Obwohl ein reflationäres Umfeld einen Anstieg der Inflation mit sich bringt, wird dies allgemein als positiv für die Weltwirtschaft gesehen, da es mit einer Rückkehr zur Normalität in Verbindung gebracht wird. Ein reflationäres Umfeld ist durch einen Anstieg der Gesamtnachfrage, eine Annäherung an die Vollbeschäftigung und ein Preisniveau gekennzeichnet, das sich schrittweise dem 2 %-Ziel der Zentralbanken nähert.
Der Unterschied zu einem inflationären Umfeld liegt darin, dass dieses normalerweise mit einem schrittweisen Anstieg des allgemeinen Preisniveaus zu einer Zeit verbunden ist, in der die Wirtschaft mit voller Kapazität arbeitet. Eine Reflation wird also als eine positive Entwicklung gesehen; eine Standardinflation hingegen eher als negativ, sofern die Preissteigerungen dazu tendieren, die langfristigen Trends und die Ziele der Zentralbanken zu übersteigen.
Nach der Pandemie im Jahr 2020 brachten die Währungs- und Finanzbehörden auf der ganzen Welt beispiellose politische Unterstützungsmaßnahmen auf den Weg, um die durch die Pandemie verursachten deflationären Kräfte umzukehren und zu verhindern, dass die globale Rezession zu einer Depression wird. Diese reflationären Maßnahmen in Verbindung mit der Entwicklung und dem fortschreitenden Einsatz von Covid-19-Impfstoffen haben die Voraussetzungen für ein reflationäres Umfeld im Jahr 2021 geschaffen.
Die mittelfristigen Aussichten für Reflation und Inflation
Im Jahr 2020 schrumpfte die Weltwirtschaft um etwa -3,5 %. Angesichts der außerordentlichen politischen Unterstützung und des Einsatzes von Covid-19-Impfstoffen erwartet der IWF nun, dass sich die Weltwirtschaft im Jahr 2021 um etwa 5,5 % erholen wird. Wenn weitere Schocks oder unerwartete größere Rückschläge ausbleiben, sollte das reflationäre Umfeld zu einem soliden Wirtschaftswachstum beitragen. Allerdings wird dieses Wachstum auch im Jahr 2021 regional ungleichmäßig ausfallen und weiterhin erheblich von der Entwicklung der Pandemie bestimmt werden.
Nach der globalen Finanzkrise vor mehr als einem Jahrzehnt blieben die Inflationsraten in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften über einen längeren Zeitraum hinweg auf einem niedrigen Niveau. Viele Länder erlebten Phasen mit negativem Preiswachstum. Als die Covid-19-Pandemie die Weltwirtschaft traf, hatte die Inflation noch nicht wieder das Vor-Krisen-Niveau erreicht.
In der ersten Hälfte des Jahres 2021 wird die Inflation in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften tendenziell ansteigen, was vor allem auf höhere Energie- und Rohstoffpreise, Angebotsengpässe und einen positiven Basiseffekt zurückzuführen ist. Wir gehen davon aus, dass die Inflation im zweiten Quartal dieses Jahres ihren Höhepunkt erreichen wird.
Insgesamt dürfte die Inflation jedoch auf absehbare Zeit verhalten bleiben. Dies ist auf eine negative Produktionslücke, Gegenwind durch strukturelle Kräfte (wie Demografie, Globalisierung und Technologie) und ein wachsendes Ungleichgewicht zwischen Ersparnissen und Investitionen zurückzuführen. Da die Inflation derzeit unter dem Zielwert liegt, werden die Zentralbanken in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften wahrscheinlich über vorübergehende Inflationsschübe hinwegsehen und ihre lockere Politik über einen längeren Zeitraum beibehalten – das sogenannte „Low for Long“.
Was bedeutet das für die Finanzmärkte?
Ein reflationäres Umfeld, das durch eine zyklische Konjunkturerholung, eine äußerst unterstützende makroökonomische Politik und moderat steigende Preise gekennzeichnet ist, wird als positiv für die Aktienmärkte und Risikoanlagen im Allgemeinen angesehen.
Die wichtigsten Aktienindizes stiegen von den Tiefstständen im März 2020 um etwa 75 % und erreichten im März dieses Jahres neue Höchststände. Diese Aktienrallye wurde durch eine von den Zentralbanken herbeigeführte Liquiditätsflut und einen verbesserten Wirtschaftsausblick angetrieben. Die Wahl von Joe Biden, die Aussicht auf zusätzliche fiskalische Unterstützung in den USA und die Entwicklung von Covid-19-Impfstoffen haben die Reflationsdynamik verstärkt und sogenannte „Reflation Trades“ ausgelöst.
Reflationstrades begünstigen tendenziell Vermögenswerte, die mit einem schnelleren Wirtschaftswachstum verbunden sind. Zudem fördern sie in der Regel eine Rotation in die Vermögenswerte, die während der Rezessionsphase am meisten gelitten haben. Aktien- und Rohstoffmärkte entwickeln sich tendenziell besser als andere Märkte, Aktienmärkte in Schwellenländern besser als die in fortgeschrittenen Volkswirtschaften und Small Caps und zyklische Sektoren besser als Large Caps und Wachstumswerte. In einer Reflationsphase führen die Wachstumsaussichten und die steigenden Inflationserwartungen dazu, dass die Renditen von Staatsanleihen steigen und hochverzinsliche Anleihen besser abschneiden als Investment-Grade-Anleihen. Zyklische Erholungs- und Reflationsphasen gehen in der Regel auch mit schwächeren Safe-Haven-Währungen (typischerweise dem US-Dollar, dem japanischen Yen und dem Schweizer Franken) einher, da Investitionsströme in Regionen mit besseren Wachstumsaussichten und höheren Zinsen gelenkt werden.
Mit der Zeit birgt ein reflationäres Szenario auch Risiken für die Finanzmärkte.
Die Verabschiedung des 1,9 Billionen USD schweren US-Pandemie-Hilfsgesetzes hat zusammen mit der allmählichen Wiederbelebung der US-Wirtschaft und besseren Wirtschaftsdaten zu einem Anstieg der Inflationserwartungen und einem sprunghaften Anstieg der Renditen von Staatsanleihen geführt. Die Rendite 10-jähriger US-Treasuries stieg von 0,9 % Ende 2020 auf 1,7 % am Ende des ersten Quartals dieses Jahres. Seitdem ist die Rendite wieder etwas auf 1,6 % gesunken. Die Renditen europäischer Staatsanleihen haben sich ähnlich entwickelt und sind fast auf die Niveaus von vor der Pandemie zurückgekehrt.
Seit Mitte Februar führten die überzogenen Aktienbewertungen in Verbindung mit ersten Anzeichen einer Inflation und einem raschen Anstieg der Anleihenrenditen zu Marktturbulenzen, da die Aktienmärkte höhere Zinsen verarbeiten mussten. In den USA haben die Sorgen um den Anstieg der Inflation dazu geführt, dass Anleger befürchten, die Fed könnte ihre Politik früher als erwartet straffen.
Höhere Renditen werden derzeit als eines der größten Risiken für die Finanzmärkte angesehen. Ein anhaltender und starker Anstieg der langfristigen US-Zinsen könnte der noch jungen Konjunkturerholung schaden, die Aufwärtsbewegung des Marktes zum Stillstand bringen und die Reflationstrades zunichtemachen. Zudem könnte das Risiko höherer US-Renditen auch den US-Dollar stärken und die Kapitalströme aus den Schwellenländern zurück in die USA lenken. Obwohl das reflationäre Umfeld bisher intakt ist, hat sich der Spielraum für weitere Gewinne bei Risikoanlagen verringert.
Die Reaktion der großen Zentralbanken
Wir haben Unterschiede in der Art und Weise gesehen, wie die großen Zentralbanken auf die Verschärfung der finanziellen Bedingungen reagiert haben. Dies ist auf die unterschiedlichen Situationen und zugrunde liegenden strukturellen Merkmale in den USA beziehungsweise der Eurozone zurückzuführen.
In den USA haben die beispiellose fiskalische Unterstützung, eine voranschreitende Covid-19-Impfkampagne sowie die allmähliche Wiederbelebung der Wirtschaft die Wachstumserwartungen verbessert und sind der Grund, weshalb die Konjunkturerholung widerstandsfähiger gegen einen Anstieg der langfristigen Renditen ist.
Die Fed sieht die Versteilerung der Zinskurve als eine positive wirtschaftliche Entwicklung an. Daher hat sie kürzlich ihre Wachstumsprognose für die US-Wirtschaft für 2021 auf 6,5 % angehoben. Die Fed hat eine relativ entspannte Haltung gegenüber dem Anstieg der Renditen eingenommen und bisher keine Maßnahmen ergriffen, um sie zu senken. Ein moderater Anstieg der langfristigen Zinsen dürfte der zyklischen Erholung und der damit einhergehenden Versteilerung der Zinskurve keinen Abbruch tun. Stattdessen könnte sie die Finanzintermediation fördern und zur Finanzstabilität beitragen. Dennoch hat die Fed deutlich gemacht, dass sie eingreifen wird, um einen deutlichen und grundlosen Anstieg der Renditen von Staatsanleihen einzudämmen, damit es nicht wieder zu ungeordneten Marktbedingungen kommt, wie wir sie im März 2020 erlebt haben.
In der Zwischenzeit hat sich die Fed ohne dauerhaften Inflationsdruck und angesichts der Tatsache, dass die Wirtschaft noch weit von der Vollbeschäftigung entfernt ist, gegen eine verfrühte Straffung der Geldpolitik ausgesprochen und bekräftigt, dass sie auf absehbare Zeit an einer expansiven Politik festhalten wird.
Ganz anders stellt sich die Situation in der Eurozone dar. Obwohl aufgrund der Aussicht auf eine zyklische Erholung auch die Renditen von Staatsanleihen im Jahr 2021 in die Höhe geschnellt sind, erscheint das Makrobild deutlich schwächer, und der institutionelle Rahmen ist komplexer.
Die Erholung in Europa wird durch höhere Covid-19-Infektionsraten, erneute Lockdowns und deutlich langsamere Fortschritte bei der Impfkampagne verzögert. Der fiskalische Stimulus der Eurozone ist viel kleiner als die vom US-Kongress beschlossene fiskalische Unterstützung. Es wird außerdem mehr Zeit brauchen, bis er ausgeschüttet wird und seine Auswirkungen in den Volkswirtschaften der Eurozone spürbar werden. Schließlich sind die regionalen Divergenzen zwischen den Ländern und das Risiko einer Ausweitung der Renditeunterschiede zwischen dem EU-Zentrum und seiner Peripherie besonders besorgniserregend.
Daher ist es nicht überraschend, dass die EZB energisch reagiert hat, um einen weiteren Anstieg der Finanzierungskosten für Staatsanleihen zu verhindern, der zu einer Verschärfung der finanziellen Bedingungen führen könnte. Sie hat darüber hinaus kürzlich zugesagt, das Tempo ihres Kaufprogramms zu erhöhen, um die Renditen in Schach zu halten. Wir gehen davon aus, dass die EZB ihren sehr lockeren geldpolitischen Kurs für einen längeren Zeitraum beibehalten wird.
Was können wir also in nächster Zeit erwarten?
Das reflationäre Umfeld dürfte dazu führen, dass die langfristigen Renditen von den niedrigen Niveaus des letzten Jahres ansteigen. Diese fortschreitende Verschärfung der finanziellen Bedingungen könnte zu weiterer Volatilität und Wellen von Marktturbulenzen führen.
Wir gehen jedoch davon aus, dass die mit der zyklischen Erholung einhergehenden Reflationstrades noch weiteres Potenzial haben. Warum? Erstens spiegelt der Anstieg der langfristigen Renditen eine deutliche Verbesserung der globalen Wachstumsaussichten wider. Zweitens macht die beispiellose politische Unterstützung diese Erholung auch weniger sensibel für die Zinssatzentwicklung, als es noch in früheren Zyklen der Fall war. Ein weiterer zu berücksichtigender Punkt ist, dass die Inflation wahrscheinlich weiterhin verhalten bleiben wird und die Zentralbanken ihre extrem lockere Geldpolitik für einen längeren Zeitraum beibehalten werden. Und schließlich bleiben die Renditen historisch niedrig. Die Unternehmen haben sich zu sehr günstigen Konditionen refinanziert, und der wirtschaftliche Aufschwung wird stärkere Unternehmensgewinne begünstigen.
Wir sehen ein unterschiedliches Wachstumsbild in den USA und Europa. Zudem verfolgen die Fed und die EZB unterschiedliche Ansätze, die gleichermaßen dazu beigetragen haben, dass sich der Renditeunterschied zwischen US-Treasuries und europäischen Staatsanleihen seit Anfang des Jahres vergrößert hat. Obwohl der US-Dollar im Jahr 2020 rund 11 % abgewertet hat, haben diese Entwicklungen die (weithin erwartete) weitere Abschwächung der US-Währung gebremst. Divergenzen zwischen dem amerikanischen und dem europäischen Wachstumspfad und eine weitere Vergrößerung der Renditelücke könnten diesen Trend verzögern oder den US-Dollar sogar stärken. Dies würde einige der beliebtesten Reflationstrades (z. B. Rohstoffpreise und den Konjunkturzyklus der Schwellenländer) gefährden. Daher scheint es sicher, dass wir noch einige Zeit von Reflation und Inflation und deren Auswirkungen auf die Märkte hören werden.